Reale Underdogs
Wolodymyr Selenskyj
Wolodymyr Selenskyj
Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj – Ein Mann, der in den letzten Monaten zu einer Ikone des Widerstands wurde. Ein Symbol für den Kampf für Freiheit und Demokratie. Als er im Jahr 2019 seine Präsidentschaft antrat, erwarteten die Bürger der Ukraine wenig von ihm. Als Politiker unerfahren, populärer Fernsehstar, Komiker und Produzent. Und in seiner Rolle als Präsident in der Erfolgsserie »Diener des Volkes« so erfolgreich, dass er es im realen Leben einfach mal probierte. Und gewann. Drei Jahre ist er inzwischen im Amt. Und entwickelte sich in dieser Zeit vom unterschätzten Underdog zum unfreiwilligen Helden.
Das Leben ahmt die Kunst nach
Politische Ambitionen hatte Wolodymyr Selenkyj bis zu seiner Kandidatur nicht. Er beendete ein Jurastudium, arbeitete aber nie als Jurist. Die Bühne war seine Welt. Mit der Kabarettgruppe »Kwartal 95«, benannt nach seinem Heimatstadtviertel in Kryvyi Rih, tourte er durch die ehemaligen Sowjetrepubliken. Und wurde schnell populär. 2006 gewann er sogar die ukrainische Variante der Tanzshow »Dancing with the stars«.
Sein größter Erfolg gelang ihm 2015 mit der Serie »Diener des Volkes«. Darin spielte er den unscheinbaren Geschichtslehrer Holoborodko, der überraschend Präsident der Ukraine wird.
Oscar Wilde schrieb einst: »Das Leben ahmt die Kunst weit mehr nach als die Kunst das Leben.« Wolodymyr Selenskyj muss sich ein Beispiel daran genommen haben. Nach seinem Fernseherfolg wurde er zu dem Politiker, den er gespielt hatte: unscheinbar, verlässlich und bescheiden.
Mit einem vierseitigen, skizzenhaften Wahlprogramm trat er mit der Partei »Diener des Volkes«, tatsächlich benannt nach seiner Erfolgsserie, an. Und gewann mit 73 % der Stimmen. Der Grund für seinen überwältigenden Sieg: Protest. Die Wähler entschieden sich nicht für Selensky, sondern gegen Amtsinhaber Janukowytsch.
Als erste Amtshandlung löste Selenskyj das Parlament auf und rief Neuwahlen aus. Ein Schritt, der die Richtung seiner politischen Arbeit vorgab – unkonventionell und reformorientiert. Zu seinen Hauptzielen erklärte er die Beendigung des Krieges im Osten der Ukraine und den Kampf gegen die grassierende Korruption, die das Land an den Rand des Ruins getrieben hatte. Ehrbare Vorhaben.
Doch Ehrbarkeit und Politik gehen selten Hand in Hand. Und so ergaben sich auch im Leben von Neulings Selenskyj Brüche, die sein Saubermann-Image ankratzten. Da wäre der großzügige Geldgeber seines Wahlkampfs, Ihor Kolomojskyj. Ihm gehörte der Fernsehsender 1 + 1, der die Serie »Diener des Volkes« ausstrahlte. Selenskyj geriet in den Verdacht, eine politische Marionette des mächtigen Oligarchen zu sein. Sein Statement dazu: »Ich bin eine absolut unabhängige Person. Ich möchte niemanden beleidigen, aber derjenige, der mich kontrollieren wird, ist noch nicht geboren.«
Spätestens als die »Pandora Papers« offenlegten, dass der gegen Machtmissbrauch kämpfende Präsident selbst Offshore-Konten besaß, waren seine Umfragewerte im Keller.
Die Rolle seines Lebens
Doch mit dem 22.2.2022 änderte sich das Bild des unbedeutenden Politikers, das die Welt bisher von ihm hatte. Mit der Anerkennung der Republiken Donezk und Luhansk durch Russland und den zwei Tage später folgenden Angriff auf die Ukraine musste Wolodymyr Selenskyj eine neue Rolle ausfüllen: die des Anführers eines Volkes im Krieg.
Und diese erfüllt er brillant. Trug er bei der Ansprache an sein Volk am 22.2. noch Anzug und Krawatte, wandelte sich sein Erscheinungsbild rasant. Innerhalb weniger Tage wurde aus dem elegant auftretenden Präsidenten in Anzug und Krawatte der »Mann des Volkes«, der an der Seite der ukrainischen Bürger gegen den Aggressor kämpft.
Seit dem 25.2. trägt er militärische Kleidung. Nicht prächtig, wie sich Anführer einer Armee präsentieren, sondern schlicht, wie ein Soldat. Fast täglich steht er seitdem mit kakifarbenem Shirt und sprießendem Bart, häufig erschöpft und müde wirkend, vor der Kamera. Pure Ironie, dass er erst durch diese Veränderung zu einem wahren Staatsmann reifte.
Sein Verhalten seit Kriegsbeginn hinterlässt weltweit bleibenden Eindruck. Das Angebot der USA, ihm bei der Flucht aus der Ukraine zu helfen, lehnte er lapidar mit den Worten ab: »I need ammunition, not a ride.«
Er handelt (wieder einmal) gegen alle Erwartungen. Und erntet weltweit Respekt für seine Courage. Bette Midler beispielsweise tweetet: »Things on Earth you can see from space: the great pyramids of Giza, the Amazon river, the Grand Canyon, the balls of Volodymyr Zelensky.«
Der Social-Media-Präsident
Als erfahrener Medienprofi nutzt Wolodymyr Selenskyj seit Jahren intensiv seine Social-Media-Kanäle. Spötter bezeichnen ihn als »Präsidenten im Selfie-Modus«.
Im Krieg werden die sozialen Medien zu einer seiner wirkungsvollsten Waffen, die er gezielt und wohlüberlegt einsetzt. Als das Gerücht aufkam, er wäre aus Kiew geflüchtet, veröffentlichte er binnen Stunden auf seinem Facebook-Kanal ein Live-Video von den Straßen der Hauptstadt. Seine Botschaft: »Wir sind hier.«
Zum ersten Mal lässt ein Präsident die Welt am Schicksal seines Landes teilhaben. Live, authentisch und ungefiltert. Waren Experten zu Beginn des Krieges überzeugt, dass die Ukraine nach wenigen Tagen fallen würde, sehen sie heute in Selenskyj einen wichtigen Grund, warum das Land dem Angriff bisher erfolgreich entgegentritt. Er ist die Stimme der geeinten ukrainischen Nation und schenkt mit seinen Reden in der schwersten Krise des Landes ein Stück Hoffnung.
Individuelle Botschaften
Die größte Stärke Selenskyjs liegt in seiner Wortgewalt. Zusammen mit seinem Team bereitet er seine Reden akribisch vor und findet für jedes Land die richtigen Worte und Anknüpfungspunkte. Die Journalistin Karoun Demirjian von der Washington Post stellt fest: »Er kommt nicht nur rein und liest den Text ab. Er versteht die Wirkung von Geschichten.«
Und besonders versteht er es, die Geschichte anderer Länder geschickt mit dem Schicksal der Ukraine zu verknüpfen. Vor dem deutschen Bundestag sagt er: »Sie sind durch eine Art Mauer von uns getrennt. Es ist keine Berliner Mauer, es ist eine Mauer inmitten Europas zwischen Freiheit und Unfreiheit. Und diese Mauer wird größer mit jeder Bombe, die auf die Ukraine fällt, mit jeder nicht getroffenen Entscheidung, mit einer nicht getroffenen Entscheidung für den Frieden, die uns helfen könnte.«
Und appelliert mit einer Reminiszenz an das berühmte Zitat von Ronald Reagan (»Mr. Gorbatschow, tear down this wall.«) an den Bundeskanzler: »Und das sage ich Ihnen, lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer, geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient, damit Ihre Nachfahren stolz auf Sie sind.«
Vor dem US-Kongress erinnert er an Pearl Harbour und den 11. September, um das Grauen der Luftangriffe in der Ukraine greifbar zu machen. »In Ihrer Geschichte haben Sie Erfahrungen gemacht, durch die Sie die Ukraine verstehen. Wir brauchen sie jetzt. Die Erinnerung an den Dezember 1941 als der Himmel schwarz war von Flugzeugen, die Sie angegriffen haben. Erinnern Sie sich an den 11. September 2001, ein schrecklicher Tag, als der terroristische Angriff erfolgte. […] Und unser Land erlebt jetzt dasselbe, Tag für Tag, genau jetzt in diesem Augenblick, jede Nacht, […] Russland hat den ukrainischen Himmel in eine Todeshölle verwandelt für tausende von Menschen.«
Im englischen Unterhaus knüpft Selenkyj an die berühmte Rede Winston Churchills (»We shall never surrender«) an, die dieser ebendort im Jahr 1940 hielt. Er sagt: »Wir werden nicht aufgeben. Und wir werden nicht verlieren. Wir werden bis zum Ende kämpfen. Auf See, in der Luft. Wir werden weiterkämpfen für unser Land, egal wie hoch der Preis sein wird.« Als ihn daraufhin ein Journalist mit dem großen, britischen Staatsmann vergleicht, antwortet er amüsiert: »Ich glaube, Churchill hat mehr getrunken.«
Seine Rhetorik, friedensorientiert und einend. Er beschwört die Gemeinschaft, Hoffnung und Freiheit. Und spricht ruhig, mit wenig Gestik und Mimik. Im norwegischen Parlament sagt er: »Ich bin sicher, dass das Land, das den Friedensnobelpreis verleiht, besser versteht als jedes andere Land, was Frieden bedeutet, wie sehr wir ihn brauchen.«
Und er betont Gemeinsamkeiten. »In der Geschichte war es immer so, dass wir in schwierigen Zeiten, die von entscheidender Bedeutung für Europa waren, auf Sie zählen konnten. Vor tausenden Jahren haben die Wikinger aus Norwegen an der Errichtung des ersten Staates in Kiew mitgewirkt. Die Ukraine und Russland erschienen auch in der norwegischen, nationalen Saga. Unsere Vorväter hatten viel gemeinsam. Und heute eint uns noch mehr.«
Einenden Worten stellt er apokalyptische Drohkulissen entgegen. In einer Pressekonferenz vom 3.3.22 sagt er: » […] wenn es uns nicht mehr gibt, […] danach kommt Litauen, Estland, […] Moldau, Georgien, danach kommt Polen. Und es wird so weiterlaufen bis an die Berliner Mauer heran. Glauben Sie mir das.« Auch hier entwirft er eine Gemeinschaft: die der Länder, die von Russland bedroht werden. Und er mahnt: »Wenn Sie Ihre Werte nicht verteidigen, verschwinden sie.«
Mit seiner Überzeugungskraft stärkt er die Front der Unterstützer der Ukraine. Auch wenn er nicht jedes Ziel erreicht, wie die Schließung des ukrainischen Luftraums, erzielt er bedeutende Teilerfolge, die es seinem Land bislang ermöglichen, gegen den übermächtigen Gegner zu bestehen.
Der Underdog, der zum Helden wurde
Mit starken Reden und einer gehörigen Portion Courage eint Wolodymyr Selenskyj sein Volk im Kampf gegen die russische Invasion. Und wird vermutlich in die Geschichte eingehen als Underdog, der sich in der schwersten Krise seines Landes zum uneigennützigen Helden wandelte.
Bildquelle: www.president.gov.ua